Jahrhundert-Ereignis

Kirchenmusik – Burger führt von Brahms zu Bungert. Dessen „Mysterium” wurde vor 94 Jahren zum letzten Mal aufgeführt. In der Petrikirche forderte das große Werk Chor, Solisten und Musikern eine großartige Leistung ab.

Wie geht man ein Werk an, das seit 94 Jahren „unerhört” blieb, das vor 100 Jahren geschrieben wurde, das durchaus sperrig ist mit seinen geschichteten Dreiklängen, mit seinen wechselnden Tonarten? Einem Oratorium, das ausladend und anspruchsvoll daher kommt, das progressive Strömungen aufnimmt und dennoch tief verankert in musikalischer Tradition bleibt? Nun, mit Hingabe. Und mit Erfolg. Kantorei und Vokalensemble der Petrikirche, die Neue Philharmonie Duisburg und fünf Solisten nahmen sich unter Leitung Gijs Burgers August Bungerts „Mysterium” an – angesichts der Werkgeschichte ein Jahrhundertereignis. Das Ergebnis war ein großer Musikabend in der Petrikirche, einer von der Sorte, die lange nachhallen. Und die allein hoch ambitionierte Akteure und ein Förderkreis für Kirchenmusik ermöglichen. Bungert, den gebürtigen Mülheimer, zum Stadtjubiläum aus der Vergessenheit zu reißen, lag nahe. Den Konzertabend mit Brahms Schicksalslied, einer Hölderlin-Vertonung, zu eröffnen, ebenso.

Das 1871 für Chor und Orchester geschriebene Werk zeichnet ein dramatisches Bild menschlicher Ungewissheit – und führte logisch zu Bungert hin. Schon bei Brahms zeigte sich der Chor stimmgewaltig und exakt dramatisch im anspruchsvollen Allegro, während die Duisburger bewiesen, dass sie auch ohne großen Antrieb musikalisch präzise auf den Punkt kommen. Bungert hat sein Mysterium nach Hiob geschaffen, jener biblischen Figur, die trotz ihrer Güte von Gott mit schrecklichen Leiden gestraft wird. Mit „Warum?”, „Woher, Wohin” und „Erkenntnis” sind die Teile des Oratoriums betitelt, das bei Bungert ein Weg zur Erlösung ist – auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Dr. Christoph Hust promovierte über Bungert und führte in dessen Schlüsselwerk ein: Komponierte Mystik, „verschlungen in ein Gewirr theologischer und philosophischer Theorie”, letztlich „berstend vor Ambitionen” und geschaffen von einem Menschen, „der nicht weniger als die Welt und das Leben erklären wollte”.

Eine gehörige Last, die Bungert dem Mysterium auflud und mit der er sich aus Sicht zeitgenössischer Kritiker durchaus verhob. Was so Wort-durchdrungen daher kommt, hört sich 100 Jahre später in Burgers Interpretation vor allem musikalisch interessant und spannend an. „Unerhört” eben. Bestens disponiert und herausragend im Gesamtkunstwerk: Bariton Thomas Laske als „Leidtragender” und Sopranistin Sonja Mäsing. Die Wucht des Werks zeigte Wirkung. Der Beifall der rund 300 Besucher klang nach verhalten kurzer Besinnungspause wie befreit.

WAZ Mülheim, 21.04.2008, Jörn Stender

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